Verliert die Berufslehre an Wert?
Handwerk war schon attraktiver, Firmen ringen mit fehlenden Fachkräften. Ist das Schweizer Erfolgsmodell Berufslehre gefährdet? Woran sollen sich Jugendliche orientieren? Ein Blick in eine Berufsschule gibt Antworten.
Er ist am Puls der Berufsbildung, weiss um deren Nöte und Chancen. Im Interview gibt er einen breiten Einblick in das Thema. Als Rektor der Berufsschule Lenzburg (BSL) ist Tobias Widmer seit 2019 Chef von rund 130 Mitarbeitenden. Zuvor war er Konrektor, insgesamt wirkt er seit 27 Jahren an der BSL.
Selbst wählte er den akademischen Weg. Nach der Kantonsschule wirkte er zunächst als Turn- und Sportlehrer, später wurde er Lehrperson in der Allgemeinbildung und absolvierte danach die Ausbildung zum Schulleiter. Tobias Widmer ist 52 Jahre alt, verheiratet und Vater von zwei erwachsenen Töchtern. Er wohnt in Suhr.
Tobias Widmer im Interview
Worauf sind Sie als Rektor stolz?
Auf die duale Berufsbildung an der Berufsschule Lenzburg «BSL» und in der Schweiz. Auf unsere 42 Nationen umfassenden Lernenden an der BSL. Auf 19 aktuelle und ehemalige Lernende, welche die BSL an den SwissSkills 2022 vertreten und dreimal Gold, zweimal Silber und dreimal Bronze gewonnen haben. Auch erfüllt es mich mit Freude, wenn ich sehe, dass viele junge Menschen den Wert der Berufslehre erkennen und stolz sind auf das, was sie tun. Ihnen ist der Abschluss wichtig und sie wissen, dass sie darauf aufbauen können. Diese Botschaft muss immer wieder und noch stärker nach aussen getragen werden.
Was macht die BSL besonders gut?
Bei uns entstehen viele Ideen für die Weiterentwicklung der Berufsbildung direkt aus der Praxis. Wir arbeiten eng mit Berufsverbänden und mit regionalen sowie nationalen Unternehmen zusammen. Dadurch fliesst viel Erfahrung aus dem praktischen Alltag in die theoretischen Grundlagen ein. Sicher ist auch unser Weiterbildungszentrum «wbz» einzigartig. Es erfüllt keinen öffentlichen Auftrag, sondern ist seit zwölf Jahren privat organisiert. Die BSL misst den Lehrlingswettbewerben eine grosse Bedeutung zu, weil diese fördern und fordern. Begegnung und Austausch ermöglichen, das gehört heute auch zum Auftrag einer Schule. Hierauf legen wir grossen Wert.
Was raten Sie Jugendlichen im Berufswahlprozess?
Geht so oft wie möglich schnuppern. Lernt viele verschiedene Berufe kennen. Der erlernte Beruf soll der Einstieg in die Berufswelt sein, er muss es nicht ein Leben lang bleiben.
Wie äussert sich dieser Praxis-Theorie-Transfer?
Lassen Sie mich das am Beispiel Fahrzeugtechnik aufzeigen: Der klassische Verbrennungsmotor hat durch alternative Antriebstechniken viel Konkurrenz erhalten. Hier haben wir die Chance ergriffen, neues Know-how zu vermitteln und entsprechende Kurse geschaffen. Oder im Bereich Gebäudetechnik bieten wir neu Drohnenkurse an, weil sich die Drohne als neues Arbeitsgerät zu etablieren beginnt. Auf tertiärer Stufe wird gerade der Automations-Informatiker aufgebaut. Er benötigt interdisziplinäres Wissen, unter anderem in den Gebieten Elektrotechnik, Maschinenbau und Verfahrenstechnik. Wir versuchen also, neue Trends schon früh zu erkennen und den theoretischen Unterbau zu schaffen.
Wo hadert es momentan?
Die Berufslehre als Schweizer Erfolgsmodell ist meiner Ansicht nach nicht gefährdet, aber wir tun gut daran, im digitalen Zeitalter verstärkt in die Attraktivität der einzelnen Berufsbilder zu investieren. Hier sehe ich vor allem bei handwerklichen Berufen Handlungsbedarf. Wir müssen aufzeigen, dass diese Berufe immens wichtig und Karrieren möglich sind. Die Sensibilisierung sollte bereits zu Hause beginnen und spätestens ab der Sekundarstufe Früchte tragen. Vom Unternehmen über die Berufsverbände bis hin zu den Schulen: Es braucht Bestrebungen aller Akteure.
Was hat sich in den letzten Jahren besonders verändert?
Die Digitalisierung nimmt Einzug in jeden Beruf – und äussert sich von Beruf zu Beruf unterschiedlich. Das hat Auswirkungen auf die Art und Weise, was wir unterrichten und wie wir es unterrichten. Auch sind die Anforderungen an die Lernenden gestiegen. Musste früher von der Schreinerin oder vom Schreiner «bloss» ein Hobelbank beherrscht werden, kommt heute die CNC-Maschine hinzu. An der BSL haben wir BYOD (Bring Your Own Device) umgesetzt, die Lernplattform Ilias etabliert und Microsoft 365 eingeführt. ICT-Kenntnisse sind eine Chance für Lernende und viele bringen hier auch schon eine gewisse Basis mit. Wichtig ist, dass wir uns auch daran orientieren, was von der Volksschule kommt. Wir haben einen kompetenzorientierten Unterricht mit hohem Praxisbezug. Eine individuelle Begleitung erfordert mehr Ressourcen oder auch mal Mut zur Lücke.
Welche Veränderungen machen Sie bei den Schülerinnen und Schülern aus?
Manchmal fehlt es etwas an Berufsstolz. Ich vermisse einen stärkeren fachlichen Austausch unter den Lernenden. Wenn ich an Pausenzeiten denke, fand früher mehr Diskussion statt. Diese ist heute dem Smartphone gewichen.
Worin sehen Sie den grossen Vorteil des dualen Bildungssystems?
In der riesigen Durchlässigkeit: Nach einer Berufslehre stehen so viele Möglichkeiten offen. Das müssen wir unbedingt besser verkaufen. Auch bildungsfremderen Familien muss besser nahegebracht werden, welche Chancen eine Berufslehre bietet.
Wo stösst das System an Grenzen? Was müsste dringend verbessert werden?
Der schnelle Wandel in der Gesellschaft bringt stetig neue Herausforderungen auf allen Ebenen. Hier müssten die Berufsbildungsverantwortlichen schneller reagieren. Ganz generell müssten wir neu entstehende Berufe noch schneller und flexibler aufnehmen können.
Wie beurteilen Sie die Qualität der Berufswahlvorbereitung in der Oberstufe?
Ich wünsche mir, dass die Sekundarstufe I und die Sekundarstufe II enger zusammenarbeiten. Es ist wichtig, Momente des Austausches zu schaffen, die gegenseitigen Anforderungen laufend zu diskutieren und die Bedürfnisse der heranwachsenden Generationen laufend in die Gestaltung des Berufswahlprozesses einzubeziehen.
Wie gestalten die Ausbildungsbetriebe ihre Rolle? Was läuft gut, was weniger gut?
Hier kann ich nur ein grosses Dankeschön aussprechen. Die Ausbildungsbetriebe machen ihren Job super. Sie stehen täglich in Konkurrenz und müssen wirtschaftlich sein. Umso lobenswerter ist es, dass sie sich für die zukünftigen Fachkräfte einsetzen. Dass gewissen Berufen die Attraktivität fehlt, macht es nicht einfacher. Da ist es aus meiner Sicht wichtig, dass man schon früh die Karrieremöglichkeiten aufzeigt und auch intern Möglichkeiten schafft.
Ein paar Worte über Ihre Berufsschülerinnen und -schüler?
Sie erfüllen mich mit Stolz. Ich erlebe sie grossmehrheitlich lässig und freundlich. Besonders hat mich die jüngste jährliche Schülerumfrage beeindruckt: Der gegenseitige Respekt ist auf Platz eins. Inspirierend war auch das Projekt «Tatort BSL», bei dem zehn Klassen aus EBA, EFZ und BM gemeinsam einen Kriminalroman verfassten. Das Projekt setzte Kreativität frei und zeigte, dass auch Handwerkerinnen und Handwerker schreiben können. Das ist unser Spirit hier in Lenzburg.
Welches sind heute die grössten Herausforderungen für Lehrpersonen?
Ganz klar die Digitalisierung, die Individualisierung und die wechselhaften Anforderungen der Berufe. Hier ist auch ein gewisses Mass an Eigeninteresse und Eigeninitiative der Lehrpersonen erforderlich.
Was macht für Sie ein «Macherbetrieb» aus?
Die Kompetenz in seinem Gebiet. Und seine Begeisterung. Er geht vorbildhaft voraus, motiviert andere, ist verlässlich und offen für Neues.
Wo liegen die Stärken regionaler KMU?
In den Chancen des vielseitigen Arbeitsmarktes und bei den familiären Strukturen. Diese ermöglichen es auch oft, Lernende richtig zu coachen. Weiter sind kurze Wege und ein vielseitiges Angebot interessant für die Konsumentinnen und Konsumenten aus der Region.
Ein abschliessender Satz zum Lezgo-Magazin?
Es ist sympathisch, wie die Unternehmen vorgestellt werden. Mir gefiel der Bericht der Kreisschule Entfelden in der ersten Ausgabe sehr gut. Das ist Werbung für unser Handwerk, herzlichen Dank. Weiter so!
Berufsschule Lenzburg
Neuhofstrasse 36
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062 885 39 00
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bslenzburg.ch
Über die Berufsschule Lenzburg
Seit mehr als 150 Jahren werden an der BSL Berufseinsteigerinnen und -einsteiger ausgebildet sowie Berufsprofis weitergebildet. Dies vorwiegend in den Bereichen Handwerk und Technik. Jährlich werden 2300 Berufslernende in 24 Berufen auf die Anforderungen der Arbeitswelt vorbereitet und 150 Berufsmaturandinnen und -maturanden zur technischen Maturität geführt.
Im privat getragenen Weiterbildungszentrum Lenzburg (wbz) vertiefen zudem jährlich rund 1100 Teilnehmende ihr branchenspezifisches Wissen.
Die Berufslehren
Von der Automobil-Assistentin bis zum Zimmermann unterstützt die BSL die praktische Ausbildung mit theoretischem Wissen. Hier gibt es einen Überblick über die derzeit 24 unterschiedlichen Berufe.